Unterwegs

die matrix live in wien

Neulich in der U-Bahn: Vier Wiener sitzen sich gegenüber, jeder mit Ohrstöpseln und daran hängenden Kabeln, die irgendwo südlich des Kopfes im Nichts verschwinden. Dazu leere Blicke, welche jeden Augenkontakt vermeiden. Das ist keine Szene aus der Matrix, aber sie wirkt so. Vier Menschen, die an der allgemeinen Realität nicht mehr teilnehmen, sie sind in einer anderen begriffen, an die sie vermittels der Kabel wie technisch angeschlossen wirken. Das hindert sie, die allgemeine Wirklichkeit noch zu erfahren geschweige denn daran teilzunehmen. Umgekehrt kann keiner der Anwesenden an der Wirklichkeit der anderen partizipieren. Tut man dies doch, dringt man in die Sphäre der anderen ein, zum Beispiel durch Augenkontakt, wirken diese meist seltsam unsicher, die Reaktionen schwanken zwischen Konfrontation und Verwirrung ob des Eindringens in den persönlichen Raum, den sie sich mitten in der überfüllten Bahn derart geschaffen haben. Ähnlich verhält es sich mit den Handy-Nutzern, den Dauertelefonierern, welche selbst in zehn Minuten U-Bahn-Fahrt drei wichtige Anrufe zu tätigen haben. Diese, von einer verzerrten Zwischenform der Realität zerrissen, glauben aus nicht bekannten Gründen immer öfter, dass alle anderen ein Interesse an ihrem Gespräch und damit ihrer Realität hätten und geben sich daher bezüglich der Lautstärke großzügig. Als dritte Variante ist eine Mischung beider Formen zu beobachten, Handy und Headset ergänzen sich dabei derart, dass im Ergebnis der Träger im vermeintlichen öffentlichen Selbstgespräch wie ein Geisteskranker daherkommt. Doch woher kommt dieser neue Lifestyle? Gerade die erstangesprochenen, tendenziell Benutzer von Mp3-Playern, geben Anlass zur Verwirrung. Walkmen gibt es schon seit über 25 Jahren. Wieso fällt gerade jetzt jedem ein, dass er schon immer unterwegs Musik hören wollte? Die neuen Mp3-Player sind zwar leichter, fassen deutlich mehr Musik und oftmals haben auch die Akkus größere Kapazitäten, aber wie schwer wiegen diese Argumente in Anbetracht von 20min U-Bahn bis zur Arbeit? Da kann man einfach keine 20 Gigabyte Musik hören, egal wie teuer der Player war. Ist es daher vielleicht eine Frage des Stylings? Ist es schick, einen Ipod mit sich rumzutragen? Die meisten Player sind nicht sichtbar. Das ein junges Mädchen den rosanen Ipod-Nano während einer 15minütigen Straßenbahnfahrt permanent in der Hand hält, ist die Ausnahme. Im Bereich der Handys kommt noch die völlige Absurdität der Zielgruppe hinzu. High-end Technik kommt in die Hände von traditionell Technikfremden, eine gigantische Verschwendung von Ressourcen. Jeder hat mittlerweile GPRS an seinem Handy, viele gar UMTS, kein Mensch weiß, dass es sich um Standards für Internetzugang per Handy handelt. Vermutete 60 Jahre alte Frauen laufen mit Series-60-Smartphones durch die Gegend, warum? Weil man sich mit Series-60 Email-Anhänge anzeigen lassen kann, welche man vorher mit diesem GPRS hätte herunterladen können, von dem man noch nie wusste, was es bedeutet? Man schafft Möglichkeiten, ohne dass dafür Bedürfnisse bestünden. Und die Folgen? Die Menschen fangen an, sich in ihren Mikrokosmos zurückzuziehen, die Technik hilft ihnen dabei. Wer Stöpsel in den Ohren hat, muss sich schlicht nicht mehr mit seiner Umwelt auseinandersetzen, kommt gar nicht in die Verlegenheit, mit fremden Menschen zu interagieren. Darf sich dann aber auch nicht wundern, wenn ihn die ungeliebte Realität in Form eines LKWs wieder einholt und überfährt, weil man sie wegen der Stöpsel nicht kommen hören konnte.

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